Hilfe zur Rückkehr ins Leben

Es ist ein Bild, das immer noch – vielleicht auch unbewusst – durch die Köpfe vieler Menschen spukt: die Psychiatrie als düsteres Sinnbild, als Endstation für Menschen, die seltsam, gescheitert und vielleicht angsteinflößend und gefährlich sind. Die Psychiatrie geistert als „Klapse“ und „Irrenanstalt“ durch Sprichworte und schlechte Witze des letzten Jahrhunderts. Und obwohl im Jahr 2019 eigentlich allgemein bekannt sein sollte, dass die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses nichts ist, vor dem man sich fürchten müsste, und die Wahrnehmung und Akzeptanz psychischer Erkrankungen, etwa Depressionen, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, bleibt für viele Menschen, die sich nicht mit dem Thema beschäftigen, das Wort „Psychiatrie“ ein irgendwie angstbehafteter Begriff.

Dr. med. Friedrich Jungblut, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Eichhofkrankenhauses in Lauterbach kennt diese Vorurteile. Mit der Realität haben sie nichts zu tun. Aber was passiert hinter den Türen der Psychiatrie eigentlich?

Zunächst einmal, das stellt Dr. Jungblut schnell klar, sind die Türen in der Regel geöffnet. In den Therapiepausen, können die Patienten die Abteilung auch verlassen und etwa spazieren gehen. Auch Angehörige können wie in jedem Krankenhaus während der Besuchszeiten tagsüber zu Besuch kommen. Nur ein Teil der Patienten wird übrigens stationär aufgenommen. Viele besuchen auch die Tagesklinik, dass heißt sie nehmen die Therapien und Angebote der Klinik wahr, wohnen und schlafen aber weiter zu Hause.

Wenn man das Haus betritt, fallen einem gleich die farbenfrohen Bilder an den Wänden auf. Es herrscht eine ruhige und entspannte Atmosphäre. „Wir sind ein normales Krankenhaus“, erklärt der 41-Jährige. Viele Patienten haben auch zusätzliche körperliche Leiden. Festzustellen, ob diese durch eine psychische Krankheit ausgelöst oder verstärkt werden, oder ob es umgekehrt ist, „das ist Teil unserer Arbeit“, erklärt der Mediziner.

Jede Station, erklärt Dr. Jungblut weiter, bietet ein festes Wochenprogramm für die Patienten an, und jeder Patient hat einen individuellen Therapieplan. „Der Mensch und seine individuellen Bedürfnisse, um wieder gesund zu werden, stehen im Mittelpunkt unserer Arbeit“, erklärt er. Eine Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben soll durch die Therapie und „aktivierende Angebote“ erleichtert werden. Dazu zählen die Förderung der Konzentrations- und Alltagsfähigkeiten, etwa durch Ergotherapie oder soziales Kompetenztraining. Wichtig sind auch Sport- und Bewegungsangebote – ob einzeln oder in der Gruppe. „Was tut mir gut? – Das ist eine wichtige Frage, die sich die Patienten selbst beantworten sollen“, so Jungblut. Daher bietet die Eichhof-Psychiatrie auch sogenannte Genuss-Gruppen an, um positive Sinneswahrnehmungen zu erfahren. Weiterhin finden natürlich Einzelgespräche mit den Therapeuten – also mit Arzt und Psychologe – statt. Hierzu steht auf jeder Station ein „multiprofessionelles Team“ zur Verfügung. Friedrich Jungblut, der seit zwei Jahren Chefarzt der Abteilung ist und seit viereinhalb Jahren im Eichhofkrankenhaus arbeitet, hat übrigens in seiner medizinischen Facharztausbildung auch eine Psychotherapieausbildung absolviert. Eine angemessene psychotherapeutische Kompetenz ist dabei Ausbildungsinhalt von allen Ärzten und Psychologen, aber auch viele Mitarbeiter der Pflege, der Ergotherapie und der Sozialen Arbeit besitzen vielfältige therapeutische Qualifikationen, die im Rahmen regelmäßige interner und externer Fortbildungen erworben werden.

Der Tag in der Eichhof-Psychiatrie, in der über 70 Mitarbeiter, die meisten in der Pflege, arbeiten, beginnt morgens mit einer Besprechung der Stationsteams: Wie lief der Nachtdienst? Was steht heute am Tag an? Wie ist die Belegung der Station? Am Vormittag werden dann die Visiten auf den Stationen absolviert, das Therapieprogramm beginnt und es finden Teambesprechungen statt. „Wenn ich keine Visite habe, bieten wir eine Sprechstunde in der Ambulanz und der Substitutionsambulanz für Drogenabhängige an. Wir machen auch Hausbesuche und besuchen Pflegeheime“, erklärt der Chefarzt. 40 Betten für stationär aufgenommene Patienten gibt es. Hinzu kommen noch 21 Tagesklinik-Plätze. Die Behandlungsplätze auf den Stationen und in der Tagesklinik sind meisten voll belegt. Im Durchschnitt bleiben die Patienten 16 bis 17 Tage in der Klinik, in der Tagesklinik länger. „Unser Fokus liegt aber auch auf der ambulanten Betreuung und Nachsorge für unsere Patienten. Hier haben wir eine gute Vernetzung mit dem gesamten komplementären Bereich, mit Angeboten zur weiteren Versorgung, insbesondere mit den Vogelsberger Lebensräumen gibt es hier eine jahrelang gewachsene Zusammenarbeit.“

Was die Entwicklung der psychischen Erkrankungen über die letzten Jahre und Jahrzehnte betrifft, so bleibe die Zahl der Erkrankungen kontant. „Schizophrenien oder Suchterkrankungen treten heute nicht häufiger auf, als etwa vor 20 Jahren, sie betreffen auch nahezu alle gesellschaftlichen Schichten“, so Jungblut. Hier gebe es bei den Abhängigkeitserkrankten aber Unterschiede in der Art der Drogen. In einer ländlichen Region wie dem Vogelsberg habe man es eher mit Alkohol und Cannabis zu tun, weniger mit Drogen wie Kokain oder Heroin, die eher in Metropolregionen verfügbar seien. Zugenommen habe aber die Diagnose von depressiven Erkrankungen. Im Vogelsbergkreis liege man dabei im bundesdeutschen Schnitt. Insgesamt habe ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden. „Solche Erkrankungen sind nicht mehr so stark stigmatisiert, wie vor 30 oder 40 Jahren“, erklärt der psychiatrische Facharzt. Und auch wenn sich auch heutzutage immer noch eher Frauen ihre Krankheit eingestehen als Männer, nimmt bei letzteren die Zahl derer zu, die sich in Behandlung begäben. Viele bräuchten aber auch „einen kleinen Anstoß“, etwa von Angehörigen, drückt es Dr. Jungblut diplomatisch aus. Früher habe bei psychisch erkrankten Männern noch mehr als heute eine Verschiebung der Beschwerden in den körperlichen Bereich stattgefunden. Psychische Erkrankungen, darunter auch Alkoholismus, würden aber auch im Jahr 2019 oft noch verdrängt. „Wir haben nur einen kleinen Anteil der Suchterkrankten in Behandlung“, so Jungblut. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich viel getan hinsichtlich der Patientenversorgung, so Dr. Jungblut. Die medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung von psychischen Erkrankungen habe sich massiv verbessert. Auch bestehe die Psychiatrie aus viel mehr, als nur der Medikamentenverabreichung. „Wichtig ist aber zunächst immer eine gute Diagnostik, sowohl körperlich als auch psychisch.“

Einen konkreten Behandlungsschwerpunkt gibt es in Lauterbach übrigens nicht. „Wir sind Pflicht- und Vollversorger im Landkreis, dass heißt wir behandeln alle psychiatrischen Krankheitsbilder bei Erwachsenen mit Ausnahme der Forensik.“ Psychisch kranke Straftäter sind also kein Fall für die Eichhof-Psychiatrie – auch nicht für eine geschlossene Abteilung.

Den „klassischen“ Psychiatriepatienten gibt es nicht. Vorurteile aus Unkenntnis geboren allerdings schon. Die meisten Patienten können klare Gedanken fassen und haben auch überwiegend Krankheitseinsicht – selten ist dies nicht der Fall bei einem akuten Krankheitsschub, etwa bei psychotisch Erkrankten. Viele Symptome können aber auch körperliche Ursachen haben. Chefarzt Jungblut nennt das Beispiel eines dementen Patienten, der nicht schlafen kann, in die Psychiatrie verlegt wird, wo dann festgestellt wird, dass er eigentlich „nur“ Blasenprobleme hat.

Auch wenn die psychiatrische Abteilung prinzipiell ein offenes Haus ist, gibt es auch Patienten, bei denen eine zeitweilige Einschränkung der Bewegungsfreiheit erforderlich ist, etwa wenn sie selbstmordgefährdet oder auch eine Gefahr für andere Menschen sind. „Wir haben zwei Stationen, eine davon kann als geschlossen geführt werden, wenn es erforderlich ist.“ Dies entscheidet aber in jedem einzelnen Fall ein Richter, wozu es eine klare Gesetzgebung und Rechtsprechung gibt. Viele Patienten betrifft das aber nicht. „Im Durchschnitt haben wir ein bis zwei auf Station.“ Aber auch diese Patienten dürften – je nach Situation und in Begleitung des Personals – auch einmal an die frische Luft. Im Mittelpunkt stünden immer die Fragen „Was ist passiert?“ und „Was braucht der Patient, damit es ihm besser geht?”.

Letztendlich bleibt festzuhalten – das Schreckgespenst „Psychiatrie“ hat nichts mit der Realität zu tun. Es geht darum, Menschen in Not zu helfen, zu schauen, was sie brauchen, um wieder selbstbestimmt handeln zu können – wie in jedem anderen Krankenhaus eben auch.

DIE SERIE – TEIL 5

Noch nie waren so viele Menschen im Land psychisch krank – und doch ist das Reden darüber immer noch tabu. Der Lauterbacher Anzeiger nimmt sich dieses Themas im Rahmen einer neuen Serie an. „Aus dem Rahmen gefallen...“ – so lautet der Titel. Wir sprechen mit Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung aus dem „Rahmen“, dem „Raster“, dem „normalen“ Leben fallen. Und manchmal auch auffallen, wenn sie durch die Straßen einer Kleinstadt laufen, wild gestikulierend, schimpfend oder vielleicht komisch angezogen. Zu Wort kommen auch Menschen, die sich dieser Menschen annehmen – hauptberuflich als Pädagogen und Mediziner und auch ehrenamtlich im Förderverein Psychiatrie Vogelsberg.