Demenz ist nicht gleich Demenz

Ingo Schwalm tritt dafür ein, sich mit der Krankheit offen auseinanderzusetzen / Wissen macht es Betroffenen und Angehörigen leichter.

„Das habe ich vergessen. Ich glaube, ich werde dement.“ Diesen Satz haben viele Menschen in ihrem Leben schon mal irgendwo gehört oder selbst ausgesprochen. Doch woran erkenne ich wirklich, ob ich dement bin oder einfach nur aufgrund meines Alters etwas vergesslicher werde? Einer, der diese Frage beantworten kann, ist Ingo Schwalm aus Romrod. Er ist Demenzberater, arbeitet am Lauterbacher Eichhof-Krankenhaus und hatte in 21 Jahren Berufstätigkeit als Fachkrankenpfleger für die Psychiatrie schon mehr als 20000 Kontakte mit demenzkranken Personen.

„Über Demenz zu sprechen, liegt mir wirklich sehr am Herzen“, betont Ingo Schwalm ausdrücklich. „Denn viele Menschen wissen zu wenig über diese Krankheit. Auf der Angstskala der Krankheiten steht Demenz auf Platz 2 hinter Krebs“, verrät der Fachkrankenpfleger und ist überzeugt: „Da gehört die Demenz nicht hin. Es gibt viel schlimmere Krankheiten. Mit Demenz ist es hingegen möglich, noch viele Jahre selbstständig zu leben. Es geht dabei um das Erkennen und das Verstehen von Demenz. Das macht vieles einfacher.“ Zudem könne eine frühe Diagnose nicht nur helfen, den Verlauf der Krankheit zu mildern. Vielleicht ist es sogar möglich, die Demenz zu behandeln, denn Demenz ist nicht gleich Demenz.

Ingo Schwalm arbeitet seit 39 Jahren am Eichhof-Krankenhaus; 36 davon im Bereich Psychiatrie. In der Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Schulte und dem Neurologen Heinrich Cäsar – „die beiden waren die ersten, die im Vogelsberg Demenz behandelten“ – stieg er damals in das Thema ein. „Denn Demenzerkrankungen machen einen großen Anteil meiner Arbeit in der psychiatrischen Institutsambulanz aus. Auch bei meinen fachpflegerischen Visiten, zum Beispiel in Seniorenheimen, ist das ein großes Thema.“

„Wir vergessen alle etwas“, steigt Ingo Schwalm in das Thema ein. „Wir stehen im Keller, wollten irgendetwas holen und wissen nicht mehr was. Später fällt es uns aber wieder ein. Der Unterschied zum Demenzkranken ist, dass dieser vergisst, dass er etwas vergessen hat.“ Daher seien es meist die anderen, denen auffalle, dass irgendetwas nicht stimmt – dem Ehepartner, den Angehörigen oder den Freunden. „Wenn der Vater schon in einer Stunde zum dritten Mal das Gleiche erzählt, kann das ein Anzeichen für Demenz sein“, nennt Ingo Schwalm ein mögliches Anzeichen. „Wenn ich irgendwo Hausbesuche mache, und ich merke, dass das Fernsehen übermäßig laut ist, werde ich auch aufmerksam“, wechselt er zu einem anderen Beispiel. „Denn wer schlecht hört, dem entgehen viele tausende Informationen. Jedes Vogelzwitschern, jeder Regentropfen – tausende Reize strömen jeden Tag allein auf unser Gehirn ein, und wir verarbeiten diese unbewusst. Doch wer nicht hört, kann nichts verarbeiten. Das hat zur Folge, dass das Gehirn vernachlässigt und träge wird.“ Und das könne ebenfalls eine Ursache für Vergesslichkeit sein. „Es gibt so viele Menschen, die ihr Hörgerät nicht tragen. Weil es ihnen unangenehm ist, weil sie die Batterie nicht wechseln können oder weil es falsch eingestellt ist. Doch das lässt sich alles beim Besuch eines Hörakustikers einstellen.“ Und helfe nicht nur dabei, wieder die Gehirnleistung anzukurbeln, sondern sei auch eine gute Prävention, überhaupt nicht erst krank zu werden. Dazu gehöre übrigens insbesondere auch Bewegung. „Toll ist auch Tanzen – einfach jede Art von Bewegung.“

Schwieriger werde der Umgang mit Erkrankten, wenn sich das Wesen der Betroffenen ändere und ungewohnte Charakterzüge aufträten. „Das sind Warnsignale, dass etwas nicht stimmt“, erklärt der Fachmann. „Oder wer zum Beispiel 20 Jahre am selben Ort Urlaub macht und plötzlich nicht mehr zum Hotel wiederfindet. Wenn also der Orientierungssinn nachlässt. Oder wenn ein passionierter Autofahrer plötzlich nicht mehr weiß, dass der Schlüssel ins Schloss gesteckt werden muss.“ Oft übernähme der Partner dann unbewusst Aufgaben wie das wöchentliche Einkaufen, die dem anderen sonst eigentlich überlassen waren. Dabei sei stattdessen eine frühe Diagnose viel hilfreicher für alle. „Es dauert im Durchschnitt 2,4 Jahre, bis eine Demenz diagnostiziert wird. Das ist zu lange“, warnt der Experte. Denn je früher eine Demenz erkannt werde, desto besser kann die eigene Lebensqualität und die der Angehörigen gesichert werden.

Ein weiterer Grund für eine frühe Diagnose: Es gibt primäre und sekundäre Demenz. Letztere hat nicht den Ursprung des Gedächtnisverlustes, sondern kann andere Ursachen haben. „Zum Beispiel kann auch eine Depression Auslöser für eine sogenannte Pseudo-Demenz sein“, zählt Ingo Schwalm auf. „Und eine Depression lässt sich sehr gut behandeln.“ Weitere Gründe für eine Demenz könnten vielfältig sein und vom Vitaminmangel bis hin zum Hirntumor reichen. „Daher ist es unbedingt wichtig, sich früh von einem Facharzt untersuchen zu lassen“, empfiehlt Ingo Schwalm ausdrücklich. „Dann weiß jeder Bescheid.“ Am besten sei eine Überweisung vom Hausarzt in die „Gedächtnissprechstunde“, wie es sie zum Beispiel in Lauterbach gebe. Dort erfolge eine ganzheitliche Untersuchung durch unterschiedliche Spezialisten, um der Ursache auf den Grund zu gehen. „Klarheit ist für alle wichtig.“

Wenn eine Demenz dann erkannt ist, beginnt die Behandlung. Dann kommt gegebenenfalls auch Ingo Schwalm mit seinen Hausbesuchen ins Spiel. „Die meisten, die an Demenz leiden, sind glücklich. Wichtig ist, dass gewisse Dinge eingehalten werden: Ausreichend zu trinken – 1,5 Liter am Tag und Kaffee zählt dabei nicht.“ Eine Ausnahme sei eine schwere Herz- und Nierenerkrankung, da gälten andere Regeln. Manche Frauen hätten auch eine Blasenschwäche und tränken deshalb aus Scham zu wenig. Das sei nicht nur schädlich, sondern auch ein Kriterium für einen höheren Pflegegrad. Es gebe zudem auch Medikamente, die Antidementiva. „Mediziner sagen, dass sie nur bei jedem Neunten eine Verzögerung der Symptome erreichen. Doch aufgrund meiner Praxis-Erfahrung kann ich sagen, dass der Verlauf der Demenz durch Medikamente nicht so extrem ausfällt, wie bei vergleichbaren Fällen ohne Medikament.“ Eine weitere Therapieform sei die Ergotherapie. „Die Übungen fürs Gehirn, so will ich es mal erklären, tun den Patienten gut, die die Zuwendung genießen. Und der Angehörige, der für die Pflege zuständig ist, hat mal eine Stunde frei.“ Und das sei nicht zu unterschätzen. Denn eines macht Ingo Schwalm ganz deutlich: „Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto wichtiger werden die Angehörigen, denn es geht dem Patienten nur gut, wenn es seinem Pfleger gut geht. Manche Angehörige opfern sich allerdings so auf, dass sie irgendwann zusammenbrechen. Damit ist niemanden geholfen, denn beide möchten doch so lange wie möglich zu Hause leben. Zudem verschenken viele Menschen nicht nur aus Stolz, sondern auch durch Unwissenheit Geld und Unterstützung, die ihnen zustehen.“ Tagespflege, ambulante Unterstützung bei täglichen Aufgaben – es gibt viele Möglichkeiten, Angehörigen zu helfen. Und Ingo Schwalm kennt sie alle – bis hin zum Herd, der sich nach zehn Minuten Pause selbst ausschaltet, um Brände zu verhindern. „Wichtig ist, dass auch die Lebenspartner, die oft die Pflege übernehmen, verstehen, was passiert. Denn Wissen über die Krankheit macht es beiden leichter.“

Es gibt 1,7 Millionen Menschen in Deutschland, die an Demenz leiden. Ingo Schwalm geht davon aus, dass im Vogelsberg über 2000 Betroffene leben – zuzüglich einer Dunkelziffer. „Jeder fünfte Patient im Kreiskrankenhaus hat mittlerweile Demenz. Es ist ein Thema, was uns alle angeht. Und bei den Betroffenen sprechen wir hier von einer Generation, die unser Land nach dem Krieg wieder aufgebaut hat. Die verantwortlich ist für unseren Wohlstand. Und diese Menschen haben unsere bestmögliche Behandlung verdient. Denn die Versorgung der Alten und der Kranken ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.“