Nimmt Last von der Seele

Im Gesprächskreis für Angehörige psychisch Kranker kehren Betroffene „ihr Innerstes nach außen“ – und erfahren: Sprechen hilft und befreit.

Es ist Dienstagabend, kurz vor 18.30 Uhr. In wenigen Minuten wird der Gesprächskreis für Angehörige psychisch Kranker beginnen, an dem auch unsere Zeitung im Rahmen der Serie „Aus dem Rahmen gefallen...“ teilnehmen möchte. Wie viele Teilnehmer kommen werden, können Dr. Ursula Bernbeck und Dr. Friedrich Jungblut, die die Runde an diesem Abend fachlich begleiten werden, nicht genau sagen. „Das differiert, mal kommen zehn, mal auch nur ein oder zwei Leute“, weiß Dr. Bernbeck aus Erfahrung. Dem Wunsch, beim Gesprächskreis dabei zu sein, begegnet Bernbeck, die als Ärztin in der psychiatrischen Tagesklinik tätig ist, mit Zurückhaltung. „Schließlich kehren hier Menschen ihr Innerstes nach außen.“ Alle, die kommen, müssten mit der Anwesenheit eines „externen“ Zuhörers einverstanden sein.

Der Gruppenraum in der Tagesklinik der Psychiatrischen Abteilung ist klein. Neben zum Kreis angeordneten Stühlen gibt es einen kleinen Tisch, auf dem sich eine Papp-Box mit Taschentüchern und kleine Wasserflaschen befinden... Blickfang an der Wand ist ein großes Poster, das triste, farblose Häuserblocks zeigt, zwischen deren Mauern bunte Heißluftballons in den Himmel aufsteigen...

Vier Angehörige kommen zum heutigen Termin, außerdem Elke Müller, die 30 Jahre lang als Krankenschwester auf der geschlossenen Station der Psychiatrie in Lauterbach gearbeitet hat, wie sie bei der Vorstellungsrunde berichtet. Keiner hat etwas gegen die Anwesenheit einer „Nicht-Betroffenen“ einzuwenden. Weder das Paar, das im Laufe des Abends über sein inzwischen volljähriges Kind erzählen wird, das an einer Depression und Sozialen Phobie erkrankt ist, noch die Mutter eines Sohnes um die 50, dessen Phobien sie gar nicht genau zu formulieren vermag. Auch die Frau, die wegen ihres ehemaligen Partners gekommen ist, um den sie sich noch immer sorgt und der unter Depressionen leidet, hat nichts gegen eine Zuhörerin.

Nur kurz währt die anfänglich spürbare Unsicherheit in der Gruppe, die Ursula Bernbeck mit einer kurzen Vorstellungsrunde auflöst. Die Eltern erzählen von der Leidensgeschichte ihres Kindes, von Mobbing in der Schule, von seiner Angst, unter Menschen zu gehen, von seiner Isolation und vom stark beeinträchtigten Familienleben, aber auch von aktuell hoffnungsfroh stimmenden Entwicklungen nach einer längeren Leidenszeit, die es im geschützten Umfeld einer psychiatrischen Einrichtung macht. Die Mutter berichtet von der räumlichen Distanz, die allen gut tue – auch ihrem Kind, das gute Fortschritte mache. Bei den Besuchen des Kindes zu Hause habe sich inzwischen eine lange vermisste Nähe entwickelt, die endlich wieder gemeinsame Aktivitäten und Gespräche möglich mache.

Weniger positiv ist die Geschichte der anderen Mutter, deren erwachsener Sohn unter starken Ängsten und Zwängen leidet, wie sie berichtet, die sich manches Mal – ausgelöst durch Kleinigkeiten – auch in großer Wut und Aggression Bahn brechen können. „Schon immer schwierig“ sei ihr Sohn gewesen, für den sie die engste Bezugsperson sei, ohne dass er sich ihr wirklich öffne. Er lebe in seiner Welt, in der das Internet und das Online-Lesen eine zentrale Rolle spielten. Halt, so erzählt die Mutter, gäben ihm Aufenthalte in der Tagesklinik, weil sie ihm die nötige Tagesstruktur böten.

Über ihre Sorgen, die sie sich um ihren ehemaligen Lebenspartner macht, spricht die andere Teilnehmerin, die an diesem Abend zum ersten Mal zum Gesprächskreis gekommen ist. Dass er krank sei, sei ihr zunächst nicht bewusst gewesen. Erst verschiedene „nicht normale Verhaltensweisen“ und Kontrollzwänge und schließlich ein Suizidversuch hätten ihr die Augen geöffnet, dass mit ihm etwas nicht stimme, so berichtet sie und benennt Beispiele. Was sie sich erhofft im Kreise ebenfalls Betroffener? Antworten auf viele ihrer Fragen.

Den Part der Moderatorin hat Ursula Bernbeck in der Runde, die den Angehörigen Fragen stellt und sie manchmal auch mit einer Feststellung bewusst etwas provoziert, um sie aus der Reserve zu locken. Über die Schwierigkeit der Abgrenzung wird gesprochen und „den klassischen Konflikt der Ablösung“, der Eltern und auch Kindern schwerfallen kann. Es geht um Wünsche, die die Angehörigen für ihre Kinder, Partner und ganz bewusst auch für sich selber formulieren sollen – und um Hilfe, die an Grenzen stößt...

Die am Abend geschilderten „Geschichten“ berühren und machen betroffen. Die eine lässt hoffen, „weil bei jungen Menschen“, wie es Dr. Jungblut ausdrückt, „noch viele Entwicklungsschritte möglich sind“. Auch ohne Medikamente. Denn die Psychotherapie sei gleich stark, auch wenn Erfolge etwas mehr Zeit bräuchten als Pillen. Die anderen offenbaren eine trostlose Unabänderlichkeit.

Perfekte Lösungen für die vielfältigen Probleme bieten die eineinhalb Stunden Gespräch den Betroffenen nicht. Trotzdem wirken sie befreiend für die Angehörigen, die alle ein großes Päckchen mit sich tragen und „deren Leidensdruck sehr hoch ist“, wie Elke Müller weiß. „Der Austausch hilft, das Darüberreden und das Zuhören“, betont auch Ursula Bernbeck: „Wir stellen Fragen und sind ein Blickwinkel im komplexen Gefüge....“

Und die eine Mutter gesteht: „Psychische Erkrankungen sind ein Tabuthema. Mit dem wir uns vor der Erkrankung unseres Kindes nie befasst haben. Ich bedaure, dass ich nicht viel früher in den Gesprächskreis gegangen bin. Denn der nimmt einem Last von der Seele...“

DIE SERIE – TEIL 6

Die Psychiatrische Abteilung des Eichhof-Krankenhauses Lauterbach wurde 1977 gegründet. Ihr wurde 1985 der Versorgungsauftrag für die stationäre und teilstationäre Behandlung der Bürger des Vogelsbergkreises erteilt. Komplettiert wird das Versorgungsangebot durch eine Psychiatrische Institutsambulanz. Die stationäre Behandlung erfolgt auf zwei Stationen mit je 20 Betten. Behandelt werden alle psychiatrischen Erkrankungen. In der Tagesklinik mit 21 Behandlungsplätzen werden eine psychiatrische und psychotherapeutische Diagnostik und Behandlung für diejenigen Patienten angeboten, bei denen eine vollstationäre Behandlung nicht erforderlich ist, eine ambulante Behandlung aber nicht mehr ausreicht. Eine betreute Angehörigengruppe öffnet Raum für Fragen der Angehörigen zu psychischen Erkrankungen und den Umgang mit den Betroffenen.

An jedem 2. Dienstag im Monat treffen sich Angehörige psychisch kranker Menschen, um sich gegenseitig zu beraten und zu unterstützen. Das gemeinsame Gespräch in der Angehörigen-gruppe und die Erkenntnis, dass andere mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert sind, helfen da oft schon ein bisschen weiter. Die Treffen finden von 18.30 bis 20 Uhr in den Räumen der Tagesklinik der Psychiatrischen Abteilung statt. Informationen sind auch zu erhalten über die Psychiatrische Institutsambulanz, d 06641/82-530.

Noch nie waren so viele Menschen im Land psychisch krank – und doch ist das Reden darüber immer noch tabu. Der Lauterbacher Anzeiger nimmt sich dieses Themas im Rahmen einer Serie an. „Aus dem Rahmen gefallen...“ – so lautet der Titel. Wir sprechen mit Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung aus dem „Rahmen“, dem „Raster“, dem „normalen“ Leben fallen. Und manchmal auch auffallen, wenn sie durch die Straßen einer Kleinstadt laufen, wild gestikulierend, schimpfend oder vielleicht komisch angezogen. Zu Wort kommen auch Menschen, die sich dieser Menschen annehmen – hauptberuflich als Pädagogen und Mediziner und auch ehrenamtlich im Förderverein Psychiatrie Vogelsberg oder auch als Angehörige.