Es geht darum, Leben zu gestalten ...

Harry Bernardis ist Leiter der „Vogelsberger Lebensräume“. Im Interview spricht er unter anderem über den gesellschaftlichen Umgang mit psychisch Erkrankten sowie die Rolle der „Lebensräume“ als „Potenzialentfaltungs-Hebamme“.

Herr Bernardis, psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabuthema. Warum?

Es wohnt dem Menschen inne, dass psychische Störungen schwieriger zu akzeptieren sind, als rein körperliche Behinderungen, wie etwa bei einem Rollstuhlfahrer, der nach einem Sportunfall eine Querschnittslähmung erlitten hat. Wobei es durchaus eine Hierarchie innerhalb der unterschiedlichen Diagnosen gibt. Die Diagnose Burnout ist im Gegensatz zu einer Schizophrenie gesellschaftlich wenig diskriminiert. Eine latente Ablehnung von psychisch Kranken gründet auch immer in der eigenen Angst. Man könnte auch sagen, es geht ums Ganze, um unsere Identität. Wenn wir etwas nicht durchdringen, nicht verstehen können, fällt es uns schwer, eine Vorstellung für ein gutes und zufriedenes Leben mit einer solchen Behinderung zu entwickeln.

Aber wie kann mehr Öffentlichkeit, mehr Sensibilität für dieses Thema erzeugt werden? Kann eine Serie, wie „Aus dem Rahmen gefallen“, die im Lauterbacher Anzeiger erscheint, dazu beitragen?

Ja, da bin ich mir sicher. Wenn man etwas kennenlernt, verliert es seinen Schrecken. Das sieht man auch ganz gut beim Thema Flüchtlinge. Viele Menschen ändern ihre ablehnende Meinung, wenn sie persönlich mit einem Geflüchteten sprechen und auch etwas über ihn und sein Schicksal erfahren. Der anonyme „Flüchtling“ wird so zum konkreten, individuellen Menschen. Und auch psychisch kranke Menschen bestehen ja nicht nur aus ihrer Krankheit. So ist ein Mensch mit einer Depression eine liebenswerte Person oder eben auch nicht. Wir verwechseln leider oft den Menschen und die Krankheit. Aber kein Mensch drückt sich nur als Kranker aus. Er ist so facettenreich wie wir alle.

Die „Vogelsberger Lebensräume“, die Sie leiten, bieten vielfache Hilfeleistungen. Nach welchem Leitgedanken arbeiten die „Lebensräume“?

Wir handeln nach der Grundhaltung: Wir wissen, dass wir Menschen nicht verändern können. Wir nehmen sie, so wie sie sind, und achten sie in ihrer individuellen Eigenart. Entscheidend ist, was sie wollen, und was haben sie für Möglichkeiten, dies selbst aus eigener Kraft zu tun, um in ihrem Sinne am gesellschaftlichen Leben wieder angemessen teilhaben zu können. Wichtig ist aber gleichzeitig auch, zu fragen, was die Gesellschaft für einen Raum zur Verfügung stellt. Wie bekommen wir uns so ins Benehmen gesetzt, dass wir füreinander da sind, dass wir achtsam und rücksichtsvoll miteinander umgehen? Wir arbeiten in den „Lebensräumen“ daran, dass die hilfesuchenden Menschen ihr Potenzial ausschöpfen können. Wir sind quasi „Potenzialentfaltungs-Hebammen“. Aber die viel zitierte Integration in die Gesellschaft setzt natürlich auch voraus, dass es ein Gegenüber gibt, das mich Willkommen heißt. Wenn dieses Gegenüber Ablehnung signalisiert, ist Integration und Inklusion eine besondere Herausforderung, der wir uns zu stellen haben. Wir verstehen unsere Arbeit immer als Arbeit im Raum des Zwischenmenschlichen, der sich überall da öffnet, wo Menschen einander achtsam, respektvoll, wahrhaftig, wohlwollend, verantwortungsbewusst und couragiert begegnen.

Wie weit geht die Hilfe in den „Lebensräumen“? Suchen Sie beispielsweise auch aktiv für einen Hilfesuchenden eine Arbeitsstelle mit? Sorgen Sie für ihr Gegenüber?

Wenn das Ziel des Menschen ist, eine Arbeit zu finden, unterstützen wir ihn darin. Wir machen das, was den Menschen aktiviert, seinen Willen zu leben. Wichtig ist hier aber auch, zwischen Wunsch und Wille zu unterscheiden. Ein Wunsch ist immer etwas Passives, das von außen passieren soll, etwa, wenn ich mir Frieden oder einen Lottogewinn wünsche. Der Wille kommt von innen heraus und ist etwas, das ich bewusst und aktiv anstrebe und gestalten möchte. Wünsche ich mir also nur eine Arbeitsstelle oder will ich sie? Das ist ein wichtiger Unterschied.

Sie geben den Patienten also kein bestimmtes und erwünschtes Szenario vor, das es anzustreben gilt, um gesund zu werden?

Sicher steht bei einem schwerstbehinderten Menschen die Fürsorge im Fokus. Aber, um es nochmal zu betonen: Wir wollen so viel Autonomie im Menschen freilegen, wie möglich. Um die Menschen zu unterstützen, diese Autonomie auch leben zu können, müssen wir sowohl mit Nichtbehinderten als auch mit Behinderten, beziehungsweise psychisch Kranken, arbeiten. Dazu müssen wir uns gut vernetzen. Der Vogelsbergkreis ist für uns ein Möglichkeitsraum. Warum kann man beispielsweise nicht auch gemeinsam mit Regionalentwicklern arbeiten, um für Menschen mit Hilfebedarf entsprechende Strukturen zu schaffen? Es geht am Ende darum, Leben zu gestalten, und Leben ist immer vielfältig.

Sehen Sie einen wachsenden Bedarf an Hilfeleistungen für psychisch kranke Menschen im Land, beziehungsweise im Kreis? Laut Statistik nehmen solche Erkrankungen ja zu…

Wir haben hier schon sehr viel erreicht. Was die Statistik betrifft: Da entwickeln sich die Zahlen von Krankheit zu Krankheit unterschiedlich. Bei Depressionen gibt es ganz klar eine Zunahme. Krank zu sein heißt immer auch, ich reagiere auf gesellschaftliche oder persönliche Umstände, etwa auf zu viel Komplexität oder extreme Belastung im Arbeitsumfeld beziehungsweise im Privatleben. Auch die Zahl derjenigen Jugendlichen steigt, denen es schwerfällt, ihre Affekte angemessen zu regulieren. Da ist es wichtig zu verstehen, wie Kinder aufwachsen und welche Vorbilder sie haben.

Gehen Sie davon aus, dass die Kapazitäten der „Lebensräume“ künftig weiter ausgebaut werden müssten, weil sich Menschen im Leben nicht mehr zurechtfinden?

Insgesamt sehe ich keinen größeren Bedarf für die Zukunft. Allerdings führen neue Gesetze, wie das Bundesteilhabegesetz, welches die UN-Behindertenrechtskonvention als Grundlage hat, dazu, dass bei der Unterstützung und im generellen Verständnis der Klienten der Autonomiegedanke eine immer größere Rolle spielt. Es wird weiterhin einen kleinen Teil von Schwerkranken geben, der zu Bedarfen führt, die nicht immer angemessen gedeckt werden können. Dieser Herausforderung haben wir uns zu stellen. Aber insgesamt bringt das Bundesteilhabegesetz zum Ausdruck, dass die Unterscheidung in normale und kranke, beziehungsweise behinderte Menschen bei der Realisierung der unterschiedlichen Lebensentwürfe einfach keinen Sinn mehr macht. Das Gesetz spricht beispielsweise nicht mehr von „Wohnheimen“ sondern von „besonderen Wohnformen“. Patienten bekommen nur noch die Fachleistung bezahlt, müssen aber ihre Grundsicherung, etwa Miete und sonstige Lebenshaltungskosten, selber übernehmen. Das kann aus eigener Kraft geschehen, durch die Familie oder den Staat – eben wie bei einem gesunden Menschen. Das verkompliziert natürlich die Verwaltung, zwingt uns aber noch stärker als vorher, zu schauen, was dieser Menschen wirklich braucht, beziehungsweise will. Aus Verwaltungssicht ist das neue Gesetz also eher schwierig, aus Sicht des Menschen eher gut.

Es ist mir aber auch wichtig zum Ausdruck zu bringen, dass wir unsere Ziele nur erreichen können, wenn wir, wie in der Vergangenheit gelebt, dies kooperativ tun. Die gute Zusammenarbeit der Politik, der öffentlichen Träger und der Leistungsanbieter ist die Basis, auf der wir in der Vergangenheit im Sinne der Menschen im Vogelsbergkreis erfolgreich gearbeitet haben und auf der wir Zukunft gemeinsam erfolgreich gestalten können.

Was ist konkret Ihre Aufgabe als Leiter der Lebensräume?

Ich trage die fachliche und ökonomische Verantwortung und bewirtschafte die Vogelsberger Lebensräume als Abteilung der Eichhof-Stiftung Lauterbach, verantworte die Personalführung und Budgetplanung. Ich sehe mich aber in erster Linie als Dienstleiter für unsere rund 100 Mitarbeiter. Die entscheidende Frage ist auch hier: Was kann ich dazu beitragen, dass die Mitarbeiter ihr Potenzial im Sinne unseres Auftrages und auf dem Boden unserer Grundhaltung so gut wie möglich ausschöpfen können? Grundsätzlich verstehe ich mich als Kulturbeauftragter sowohl nach innen als auch nach außen.

Wie sind Sie zum Leiter der Lebensräume geworden?

Nun um das kurz vorwegzunehmen: Ich habe sie seit 1992 mitaufgebaut. Ich stamme aus Asperg in der Nähe von Stuttgart und habe meinen Zivildienst in der Helmut-von-Bracken-Schule in Herbstein absolviert. Schon damals bin ich ein klein bisschen heimisch geworden. Ich habe dann in Fulda Sozialarbeit studiert – und nebenbei übrigens mit Freunden das Kreuz aufgebaut – (lacht) und 1985 am Eichhof-Krankenhaus im Krankenhaus-Sozialdienst in der psychiatrischen Abteilung angefangen. 1992 habe ich dann den Auftrag erhalten, die „Lebensräume“ aufzubauen. Mein Anliegen war es dabei schon immer, meine Arbeit für die Belange der Klienten auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu vernetzen. Sozialarbeit muss in der Gesellschaft verankert werden.

Sie sind jetzt 61 Jahre alt. Gibt es etwas, das Ihnen noch fehlt, was Sie mit Ihrer Aufgabe als Leiter der „Lebensräume“ noch erreichen möchten?

Es würde mich freuen, auf der Grundlage unserer Grundhaltung einen kleinen Beitrag leisten zu können, um im Vogelsberg Orte der Lebendigkeit zu schaffen, die ein buntes und lebendiges Zusammenleben möglich machen und uns alle wachsen und gedeihen lassen. Und mit alle meine ich eben wirklich alle. Wir alle brauchen Lebensräume, die uns darin unterstützen, in Verbundenheit und Freiheit ganz lebendig Mensch zu sein.

DIE SERIE – TEIL 7

Noch nie waren so viele Menschen im Land psychisch krank – und doch ist das Reden darüber immer noch tabu. Der Lauterbacher Anzeiger nimmt sich dieses Themas im Rahmen einer Serie an. „Aus dem Rahmen gefallen...“ – so lautet der Titel. Wir sprechen mit Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung aus dem „Rahmen“, dem „Raster“, dem „normalen“ Leben fallen. Und manchmal auch auffallen, wenn sie durch die Straßen einer Kleinstadt laufen, wild gestikulierend, schimpfend oder vielleicht komisch angezogen. Zu Wort kommen auch Menschen, die sich dieser Menschen annehmen – hauptberuflich als Pädagogen und Mediziner und auch ehrenamtlich im Förderverein Psychiatrie Vogelsberg oder auch als Angehörige.